Über dem Newadelta heben sich rosarote Federwolken in zarten Pastelltönen von dem hellen Blau des Nachthimmels ab. Die Sonne taucht nur kurz ins Meer und leuchtet als Silberstreif am Horizont, ehe sie den neuen Morgen erhellt. Weiße Nächte in Sankt Petersburg – Die Zeit verschmilzt zur Sommernachtswende in einen Tag, der nie zu Ende geht. Das schattenlose, fahle Licht in den wenigen Stunden der Dämmerung überzieht die goldenen Kuppeln der Zarenstadt mit einem mystischen Schleier. Der Rhythmus des Alltäglichen setzt aus und verläuft sich in einem surrealen Zwielicht irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit. Vergeblich wartet man auf das aufflackern der Laternen. Die Straßenbeleuchtung bleibt aus. Alexandre Dumas beschrieb das Licht der Weißen Nächte, in dem es keine Schatten gibt, als „mattes, doch keineswegs trübes Licht, alles von allen Seiten beleuchtend“. Losgelöst von allen Schatten verlieren die Fassaden der Prachtbauten ihre Räumlichkeit und wirken in der Zweidimensionalität wie eine potemkinsche Kulisse für die Leichtigkeit des Seins.
Scharlachrote Segel – Der Abschied von der Leichtigkeit des Seins
Menschenmassen drängen sich auf der Uferpromenade und warten ausgelassen auf das bevorstehende Spektakel. Feuerfackeln entflammen auf dem Newa Fluss zwischen der Eremitage und der Peter-Paul-Festung. Triumphale Musik dröhnt aus den Lautsprechern. Sie läutet den Höhepunkt der weißen Nächte ein – den Einlauf des majestätischen Segelschiffes mit scharlachroten Segeln. Eine Show von Feuer, Wasser und Licht vor der magischen Kulisse der weißen Nächte. In Anlehnung an eine Geschichte von Alexander Grin über ein junges Mädchen, das seine Träume niemals aufgab, symbolisiert das Schiff mit den scharlachroten Segeln (russisch: Алые паруса) die Hoffnung und Träume, die wahr werden können, wenn man nur fest genug daran glaubt.
Am Tag „Scharlachroten Segel”, der größten Absolventenfeier in Sankt Petersburg, wird der Nevsky Prospekt für den Verkehr gesperrt und feierlich geschmückt. An den Laternenmasten sind Flaggen gehisst. Immer größer werdende Gruppen von Teenagern belagern die Straßen. Russische Fähnchen, bunt blinkende Teufelshörnchen und farbenfrohe Anstecker werden an allen Ecken vekauft. Stände mit klebriger Zuckerwatte und bunten Schnüren aus Weingummi versüßen die Wartezeit bis zu den Konzerten auf dem Schlossplatz während sich viele Jugendliche mit lauwarmen Bier aus Pappbechern betrinken. Wenn die weißen Nächte sich verdunkeln und in die endlose und kalte Dunkelheit des russischen Winters übergehen, beginnt für sie ein neuer Lebensabschnitt.